Zurück in die Zukunft
Eine Geschichte der Dortmunder Schachtage
von Matthias Langrock
Schach ist Sport. Schach ist aber auch Kunst, schön anzusehen und offen für Interpretationen. Eines der größten Kunstwerke des königlichen Spiels wird in diesem Sommer 48 Jahre alt: die Dortmunder Schachtage. Zeit für einen Rückblick auf dieses Turnier, das einer Oper gleicht: Auf eine Ouvertüre folgen fünf Akte voller Spannung und Dramatik, mit Höhen und Tiefen.
DIE OUVERTÜRE: SPASSKI GEGEN FISCHER
Neujahrstag 1972. Morgens um 9.30 Uhr klingelt bei Dortmunds Oberstadtdirektor Hans-Dieter Imhoff das Telefon. Am anderen Ende der Leitung sitzt Eugen Schackmann, Leiter des Presse- und Informationsamtes der Stadt. Er will Imhoff in Sachen Schach sprechen. Dortmund soll die Weltmeisterschaft ausrichten. Spasski gegen Fischer, Sowjetrusse gegen US-Amerikaner, Ost gegen West, ein Duell, das die Augen der Welt auf Schach lenken soll. Und damit auf Dortmund, wünscht Schackmann, der kaum die Figuren ziehen kann. Er will das Image seiner Stadt verbessern, die in der deutschen Öffentlichkeit als Hauptstadt des Bieres und der Zechen gilt und deren einst glorreicher BVB im Sommer aus der 1. Bundesliga absteigen wird. „Das landläufige Image war doch, ‚Das sind fleißige Leute, die können vor den Ball treten, haben aber sonst nicht viel drauf'“, sagt Schackmann, als er 2003 auf die Szenerie angesprochen wird.
Kurz gesagt: Die Dortmunder galten als die Doofen aus dem Ruhrgebiet. Schach sei da „genau der Kontrapunkt, den wir brauchten“ gewesen. An jenem Neujahrstag 1972 überzeugt Schackmann den Stadtdirektor Imhoff und fährt zum Restaurant des Fernsehturms. Dort trifft er auf Klaus Neumann, einen Schachverrückten, der sich in ganz Europa mit seinem Freund und Schachspieler-Kollegen Friedhelm Bachmann umtut. Auch DSB-Spielleiter Helmut Nöttger, DSB-Präsident Ludwig Schneider und Westfalenhallen-Chef Hermann Heinemann sind beim Essen dabei. Schneider sagt später zu Schackmann, er habe noch nie erlebt, dass eine Stadt eine so weitreichende Entscheidung innerhalb von 24 Stunden getroffen habe.
Dortmund bekommt die WM zwar nicht. Reykjavik erhält den Zuschlag und dort wird Bobby Fischer nach einem Aufsehen erregenden Kampf mit einem 12,5:8,5 Sieg über Spasski der 11. Weltmeister der Schachgeschichte.
Eugen Schackmann und Boris Spasski 1973 im Dortmunder Turmrestaurant (Pressestelle Dortmunder Schachtage)
Aber der DSB ist begeistert von Dortmund und will die 2. Internationale Deutsche Einzelmeisterschaft 1973 hier austragen.
„Alle entscheidenden Dinge, die Sie in der Welt bewegen, geschehen, weil einige Leute mehr machen, als sie hätten tun müssen“, sagt Eugen Schackmann.
Neumann, Bachmann, Schackmann tun mehr. Jeder, was er kann. „Ohne Bachmanns Geld und ohne Neumanns Fleiß wäre das alles nicht möglich gewesen. Ohne Neumann und Bachmann hätte Schackmann nie Schach-PR für Dortmund betreiben können“, sagt der PR-Mann. Und ohne die Unterstützung der Stadt Dortmund auch nicht. Oberstadtdirektor Imhoff (“Mach alles, wat de kannst”) habe wie sein Nachfolger Harald Heinze immer hinter den Schachtagen gestanden.
Das Turnier beginnt am 17. Mai 1973 im Westfalenpark. Am Brett sitzt auch Boris Spasski. Der erste Auftritt des Ex-Weltmeisters seit seinem Kampf gegen Fischer zieht 4500 Zuschauer an. Amerikanische Journalisten sind laut Presseberichten angewiesen, alle Züge des Turniers nach New York zu kabeln – zu Fischer. Aber Turniersieger wird der Berliner Großmeister Hans-Joachim Hecht. Mit gleicher Punktzahl landet er nach Wertung vor Spasski und dem Schweden Ulf Andersson.
1. AKT: SCHACH IN DER BIERSTADT – NACH KLUGEN ZÜGEN TIEFE ZÜGE
Am 2. Juni 1973 enden die Meisterschaften und nur einen Tag später sitzen drei der Teilnehmer wieder in Dortmund am Brett: Andersson, der Finne Heikki Westerinen und der Slowene Bruno Parma. Die Idee, ein zweites Turnier zu spielen und „Schachtage“ zu nennen, ist dem Duo Neumann/Bachmann um den Jahreswechsel in Hastings gekommen. Der Ungar Ernö Gereben, NRW-Meister Dr. Peter Ostermeyer und die lokalen Größen Rainer Wittmann, Werner Nautsch, Karl-Heinz Hüttemann, Helmut Kuttnick und Organisator Bachmann sind die weiteren Teilnehmer. Neumann beweist gegen Turnierende prophetische Gaben.
„Ein neues Kind ist geboren“, verkündet er der Presse.
Bachmann kann sich eindrucksvoll von der Klasse seiner Gegner überzeugen. Mit 2/9 belegt er den letzten Rang. Gemeinsamkeiten zum heutigen Turnier gibt es kaum noch.
Heute dauern die Vorbereitungen rund ein Jahr, damals reichten wenige Wochen. Allerdings verlangen die Organisatoren – und das ist keineswegs bei allen Schachturnieren üblich – damals wie heute Eintrittsgelder. Die Gelder tragen nach wie vor kaum zum Etat der Veranstaltung bei. Und die Akteure von damals wurden nicht reich. Sieger Westerinen, der in 24 Tagen Dortmund 24 Partien gespielt hatte, erhielt einen Reisekoffer und eine Tasche, genau wie Dr. Peter Ostermeyer für seine Leistung als bester Deutscher.
Für Eugen Schackmann bedeutet das erste Aufeinandertreffen mit den Spitzenspielern einen leichten Kulturschock. Noch 2003 konnte er darüber schmunzeln, dass der damals rund 30-jährige Ostermeyer täglich mit seiner Mutter zu den Partien erscheint. Viel Zeit verbringt Schackmann nicht mit den Spielern. Er muss sich um geeignete Räumlichkeiten bemühen, hier mal 3000, da mal 5000 Mark als Sponsorgeld locker machen. Gute Kontakte helfen dabei. Aus dem Etat des Presseamtes steuert er bei, was er kann und gibt durchaus mal 10.000 Prospekte weniger für andere Ereignisse in Auftrag, um mit dem Geld Plakate für die Schachtage drucken und kleben zu können. Was so nicht aufzutreiben ist, schießen anfangs Bachmann und später immer stärker die Stadtsparkasse zu. Neumann überzeugt Gaststättenwirte, den Schachspielern ein warmes Abendessen zu spendieren. Tausende Helfer opfern “für ein Butterbrot” Urlaub oder Schulferien. “Eine Truppe, auf die ich mich verlassen konnte. Das war damals eine Ausgangsidealsituation, die nie wiedergekommen wäre”, blickt der 1991 pensionierte Schackmann zurück.
In den 18 Jahren unter Schackmanns Leitung gewinnt das Turnier an Format. Das Kräftemessen einheimischer Spieler mit ausländischen Spitzenakteuren aus den Anfangsjahren weicht einem Aufeinandertreffen vornehmlich ausländischer Großmeister und Internationaler Meister. Romanischin (1976), Smejkal (1977), Andersson (1978) oder Hort (1980) tragen sich in die Siegerlisten ein. 1974 spielt Damen-Weltmeisterin Nona Gaprindaschwili und holt Platz drei, 1978 wird sie geteilte Zweite.
Vier Jahre später stellen die Organisatoren ein eigenes Damenturnier auf die Beine. “Dass Männer Schach spielen, war normal. Dass Frauen Schach spielen, war ne Meldung”, sagt Schackmann. Gewandelt hat sich auch das Image: Von der “Stadt der tiefen Züge”, die den Schachspielern “nach klugen Zügen tiefe Züge” (so die Slogans der Brauereien, die als Sponsoren auftraten) abverlangen, ist das Organisatorenteam 1976 von dem damaligen Presseamts-Angestellten Gerd Kolbe auf einen Ausspruch des Ex-Weltmeisters und FIDE-Präsidenten Max Euwe gestoßen worden: „Ein intelligentes Spiel in einer intelligenten Stadt für intelligente Menschen aus aller Welt.“
1980 kommt Garri Kasparow nach Dortmund, wenn auch nicht zu den Schachtagen. Klaus Neumann hat die Jugend-Weltmeisterschaft nach Dortmund geholt, die der 17-jährige Kasparow souverän gewinnt. Fünf Jahre später wird er Schachweltmeister.
Klaus Neumann gibt 1982 seinen Posten als Turnierdirektor auf. Der enorme Zeitaufwand verträgt sich schlecht mit seinem Beruf als selbstständiger Versicherungsagent. Aber er bleibt dem Schach als Spieler und als Vorsitzender des renommierten SC Hansa Dortmund, den er selbst gegründet hat, eng verbunden. Im November 1999 stirbt Neumann mit 68 Jahren. Auch Friedhelm Bachmann lebt schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Als letzter der Schachtage-Initiatoren ist Eugen Schackmann 2018 gestorben.
Mit Jürgen Grastat von den Schachfreunden Brackel steht 1982 ein Nachfolger Neumanns bereit. Das Personal ändert sich, das Großmeisterturnier wird immer stärker und die Teilnehmerzahlen beim 1975 erstmals gespielten Open nehmen ebenso zu wie das Angebot an Turnieren. 1991 finden im Berufsförderungswerk Hacheney drei Großmeisterturniere, ein Meisterturnier und ein Offener Wettbewerb mit 250 Teilnehmern statt. 1990 und 1991 erreicht das GM-Turnier Kategorie 13. Alexander Tschernin gewinnt 1990 vor Boris Gelfand.
Aber das größte Aufsehen erregen die drei als Wunderkinder apostrophierten Polgar-Schwestern. Zsuzsa wird Dritte im A-Turnier und Judit belegt den 5. Platz im B-Turnier, in dem ihre Schwester Zsofia mit vier Punkten aus elf Partien Letzte wird. Auch 1991 erhalten die Schachtage jungen Besuch aus Ungarn. Der 11-jährige Peter Leko erreicht gegen regionale Konkurrenz im Meisterturnier Platz neun. Seine erste Dortmunder Partie verliert der Elfjährige gegen den heutigen Solinger Bundesligaspieler Markus Schäfer, den ersten Sieg landet Peter, der nach getaner Arbeit mit Pantoffeln an den Füßen und einem Turnbeutel in der Hand durch das Berufsförderungswerk zieht, in der vierten Runde gegen Jordanka Micic, später Mitglied der deutschen Olympia-Damenmannschaft.
2. AKT: DER HÖHEPUNKT – DAS CHESS MEETING 1992
Die 19. Schachtage 1991 sind die letzten unter Leitung Eugen Schackmanns. Der Presseamtsleiter übergibt an Gerd Kolbe. Der sichert sich in seinem Kollegen Carsten Hensel einen Ko-Organisatoren, der bei der Tischtennis-WM 1989 Erfahrung in der Organisation von Großveranstaltungen gesammelt hat. Grastat, Kolbe und Hensel wollen aus den Schachtagen etwas Großes machen. „Viele Großmeister aus dem Ostblock spielten mit. Die überregionale Presse hatte kein Interesse an dem Turnier“, stellt Hensel rückblickend fest.
Dortmund 1992: Garri Kasparow zusammen mit Ko-Sieger Wassili Iwantschuk (Pressestelle Dortmunder Schachtage)
Einen schachlichen Höhepunkt zu markieren, geht Anfang der 90er-Jahre nur mit einem: Garry Kasparow. Der Weltmeister dominiert seinen Sport auf dem Brett und in den Medien. Auf der Computer-Messe Cebit knüpfen Hensel und Chess Meeting-Sprecher Pit Schulenburg 1991 die Kontakte zu Andrew Page, dem Manager des Russen. Sie versprechen ein hochkarätiges Turnier – und ein Startgeld von 40.000 US-Dollar. 25.000 weitere Dollar wird Kasparow für ein Simultan erhalten. Page sagt zu, das Abenteuer kann beginnen.
Erstmals in ihrer Geschichte sind die Schachtage auf größere finanzielle Unterstützung angewiesen. Aber die Zeit für die Akquise von Großsponsoren ist knapp. Im Mai versagt der Ältestenrat der Stadt die beantragte Bürgschaft von rund 620.000 Mark. Oberbürgermeister Günter Samtlebe wird aktiv, der Initiativkreis Ruhrgebiet sagt 250.000 Mark zu und so muss der Rat schließlich nur noch für 376.000 Mark bürgen.
„Kasparow kann kommen“, titelt die Dortmunder Presse.
Schulenburg und Hensel suchen nach adäquaten Gegnern für den Weltmeister. Kasparow selbst will unbedingt die damalige Nummer Zwei der Weltrangliste, Wassili Iwantschuk, unter den Gegnern sehen, aber der zeigt sich von finanziellen Zusagen der Veranstalter unbeeindruckt und sagt erst zu, nachdem seine damalige Frau Alisa Galliamowa zum Open eingeladen wird. Die Dortmunder garnieren das ausländische Spitzenfeld (neben Kasparow und Iwantschuk spielen Adams, Anand, Barejew, Kamsky, Piket, Salow und Schirow) mit dem Deutschen Dr. Robert Hübner. Kategorie 17 ist erreicht, der Elo-Schnitt liegt bei 2662 – die Schachtage sind an der Weltspitze angekommen.
Dortmund 1992: Robert Hübner gegen Garri Kasparow (Foto: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Nicht nur sportlich setzt das Chess-Meeting Akzente. 540 Teilnehmer spielen in drei Open; wer sich im A-Open mit Dutzenden von Großmeistern messen will, und selbst weniger als 2295 Elo-Punkte aufweist, zahlt die stolze Summe von 250 Mark. Trotzdem wird das Open zur Zuschussveranstaltung, sagt Pit Schulenburg. „Es war aber nötig, um den Festivalcharakter zu erhalten und ein starkes Open zu garantieren.“ Auf dem geteilten ersten Platz landet der damals noch titellose, 16-jährige Wladimir Kramnik. Erstmals können die Zuschauer, insgesamt 11.000 zahlende Fans sind es an den neun Veranstaltungstagen, die Partien auf Monitoren verfolgen. Allein am Ostersonntag strömen rund 2000 in die Westfalenhallen. Vor dem Spielsaal kommentieren Dr. Helmut Pfleger und Vlastimil Hort die Kämpfe der Matadore, die in der Halle 2a wie in einem Boxring sitzen, eingekreist vom Publikum.
Sportlich hält das Turnier, was sich alle versprochen haben. Der Favorit Kasparow siegt mit dem letzten Zug des Turniers, nicht allerdings ohne zuvor – und das geschah bis zum Ende seiner Karriere sehr selten – gleich zwei Partien verloren zu haben. Gegen Gata Kamsky und – ganz Schach-Deutschland steht Kopf – gegen Robert Hübner. Carsten Hensel sieht rückblickend in dem Turnier den kommerziellen Durchbruch der „Mediensportart Schach“. Das Chess Meeting habe gezeigt, dass man über Schach eine „sehr, sehr große Öffentlichkeit mit vergleichsweise geringem Aufwand“ erreichen könne. Die selbstbewussten Organisatoren verkünden: „Wer uns den Rang als Hochburg wieder abjagen will, der muss sich warm anziehen.“
3. AKT: DER FALL INS LOCH UND SCHNELLE WEG HINAUS
Warm anziehen müssen sich zunächst Grastat, Kolbe und Co. Die ohnehin abgespeckt geplanten 21. Schachtage 1993 drohen auszufallen, nachdem im Sommer 1992 eine Etatlücke von einigen Zehntausend D-Mark sichtbar wird. Schließlich bewilligt der Rat einen Zuschuss von 80.000 Mark; 100.000 Mark zahlt die Stadtsparkasse, ein bescheidener Gesamtetat im Vergleich zur Millionensumme des Vorjahres. „Wir sind ins Loch gefallen“, sagt Hensel heute. Die Veranstalter wandern aus der Westfalenhalle in das Berufsförderungswerk zurück, nur acht Spieler nehmen am GM-Turnier teil. Anatoli Karpow gewinnt ein Turnier der Kategorie 16 vor Wladimir Kramnik und Christopher Lutz.
Über persönliche Kontakte und professionelle Arbeit kommt das Triumvirat Hensel, Grastat, Kolbe ab 1994 wieder zurück an die Spitze. Die Schachtage wechseln ihren angestammten Termin und finden fortan in den Sommermonaten statt. Da Theater und Oper Pause machen, können die Schachspieler in den „guten Stuben“ der Stadt Einzug halten.
Kasparow kommt nicht mehr wieder, nach einigem Hin und Her um die Ausrichtung der WM 1995, die er schließlich gegen Anand im New Yorker World Trade Center gewinnt, sind die Differenzen zu groß. Wladimir Kramnik wird zum Mr. Dortmund. Er gewinnt die Schachtage 1995, 96, 97, 98, 2000, 2001, 2006, 2007, 2009 und 2011. 1999 und beim Kandidatenturnier 2002 siegt das Dortmunder Ziehkind Peter Leko. Im Vertrauen auf den Russen und den Ungarn sieht Carsten Hensel, der beide zwischen 1998 und 2009 auch als Manager betreut, eine der Stärken des Turniers. „Wir haben auf Peter und Wladimir vertraut, als sie noch nicht an der absoluten Spitze waren. Leko haben wir 1994 und 1995 sogar als Kategorie-Killer mitspielen lassen.“ Engagement, Instinkt und eine glückliche Hand hätten dafür gesorgt, dass „man auch ohne Kasparow ein Großereignis schaffen kann“, sagt Hensel.
Dortmund 1992: Peter Leko mit zwölf Jahren bei seinem zweiten Besuch in Dortmund (Foto: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Daneben sehen Hensel und Kolbe in der Betreuung der Spieler und des Teams den Erfolg ihres Turniers begründet. An „vielen netten Abenden“ seien Fahrer, Kassierer und die weiteren Helfer vor Ort nah an die „ganz großen Jungs“ rangekommen. Selbst unter den Spielern sei ein Vertrauensverhältnis entstanden.
Das Turnier wird ab 1994 auch zum Schaulaufen neuer Übertragungstechnik. Die Kommentare von Helmut Pfleger, Klaus Bischoff und Eric Lobron werden per Funk in den Spielsaal übertragen und über Kopfhörer ans Publikum übermittelt. Die Zuschauer verfolgen die Partien auf Großleinwänden und die Anzeige der Restzeit, die in der Zeitnotphase für Spannung sorgt, wird immer exakter. „Wir waren in den 90er-Jahren mit Sicherheit die am besten präsentierte Schachveranstaltung“, sagt Hensel.
Wenn nicht Ausnahmeereignisse wie das Kandidatenturnier 2002 dazwischenkommen, planen die Veranstalter in dieser Phase mit Kramnik, Leko und Viswanathan Anand, der seine Verbundenheit mit Dortmund 1996 mit seiner Hochzeitsreise in die Stadt demonstriert hat, als Teilnehmer der Schachtage. Die übrigen Spieler müssen gut genug sein, damit Dortmund neben Wijk aan Zee und Linares eines der stärksten Turniere der Welt bleibt.
„Einen Elo-Schnitt von 2700 sollte es haben“, sagt Hensel.
Gerd Kolbe setzt in den 90ern auf mindestens einen deutschen Spieler, auch wenn die, so Hensel, mit Ausnahme von Christopher Lutz’ Erfolg 1993 „leider Gottes“ ausnahmslos enttäuscht hätten. Zu Beginn des neuen Jahrtausends ruht die Hoffnung der Organisatoren auf Arkadij Naiditsch, einem Eigengewächs der Dortmunder Schachschule, der als 19-Jähriger im Jahre 2005 mit dem Turniersieg in Dortmund seinen größten Erfolg feiern wird. Wer aus der Riege der Weltklassespieler, die um die Jahrtausendwende vor allem Topalow, Schirow, Adams, Gelfand heißen, noch eingeladen wird, hängt von den aktuellen Ergebnissen, dem Zeitplan der Großmeister und dem Etat der Dortmunder ab. Der hat sich nach Kolbes Angaben in den 2000er Jahren bei rund 400.000 Euro eingependelt. Die mittlerweile zum Titelsponsor aufgestiegene Sparkasse Dortmund trägt den größten Anteil.
Jürgen Grastat leitete als Turnierdirektor 2002 seine letzten Schachtage und übergibt noch im gleichen Jahr den Stab an Stefan Koth.
Dortmund 2002: Showpartie Vitali Klitschko gegen Wladimri Kramnik (Foto: Dagobert Kohlmeyer)
4. Akt: Der Übergang
Seitdem die erste Fassung dieses Textes im Sommer 2003 im Schachmagazin Karl erschienen ist, sind fast 18 Jahre vergangen. Wir haben den Text fast unverändert belassen, Anpassungen hauptsächlich dort vorgenommen, wo sie unumgänglich waren. Aus der damals fast 30 Jahre langen Geschichte der Schachtage ist mittlerweile eine fast 50 Jahre lange geworden. Bis 2019 haben die Schachtage weiterhin Jahr für Jahr stattgefunden; erst 2020 machte das Coronavirus den Organisatoren einen Strich durch die Rechnung.
Im Jahr 2002, exakt 30 Jahre nach dem „Vorspiel“ der Dortmunder Schachtage, dem WM-Kampf zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski, hat Dortmund die sportlich sicherlich bis heute bedeutendsten Schach-Wettkämpfe seiner Geschichte ausgerichtet: das Kandidatenturnier, an dessen Ende in Peter Leko der Herausforderer des damaligen Weltmeisters Wladimir Kramnik ermittelt war.
Hätte der WM-Kampf zwischen Kramnik und Leko 2004 nicht in der Schweiz stattgefunden – Dortmund wäre der logische Austragungsort für dieses Match gewesen. Beide Kontrahenten verbindet eine Menge mit der Stadt:
Kramnik hat zehn Mal das Chess Meeting gewonnen.
Diese Zahl wird schon allein deshalb auf Jahre unerreicht bleiben, weil außer ihm überhaupt nur drei Großmeister beim Turnier mehr als einmal gesiegt haben: der Finne Heikki Westerinen 1973 und 1975, der Italiener Fabiano Caruana (2012, 2014, 2015) – und eben Peter Leko, der außer 2002 noch 1999 und 2008 gewann.
Vladimir Kramnik mit zehn Turniersiegen in Dortmund (Foto von der WM 2008 in Bonn: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Leko verbindet mit Dortmund viel mehr als nur seine Turnier-Siege. In der Westfalen-Metropole hat er seine Ehefrau Sofia kennengelernt. Und Kramnik, Leko und Dortmund hat mehrere Jahre lang noch ihr Manager Carsten Hensel zusammengehalten, den seit 1992 auch eine Menge mit den Schachtagen verbindet.
Doch zurück von den Menschen zu den Brettern. Das Großmeisterturnier des Chess Meetings bleibt auch nach 2002 eine hochkarätige Veranstaltung. Sommer für Sommer zieht es mehrere Weltklassespieler nach Dortmund. Allen voran Weltmeister Wladimir Kramnik, der Garri Kasparow im Jahre 2000 entthronte und bis zu seinem Karriereende 2018 jedes Jahr in Dortmund spielt. Kramnik reicht als Zugpferd und Werbeträger, doch sportlich genügt ein Superstar nicht für ein Spitzenturnier. Lange Zeit „liefern“ die Veranstalter. Das auf dem Papier hochkarätigste Turnier wird 2010 mit durchschnittlich 2734 Elo-Punkten ausgetragen.
Noch höher ist das Turnier 2007 einzuschätzen. Der Elo-Schnitt liegt zwar mit 2727 hauchdünn unter dem drei Jahre später, doch erstens sitzen bei dem 2007er-Turnier acht Teilnehmer an den Brettern, während es drei Jahre später nur sechs sind.
Dortmund 2007: Das Teilnehmerfeld (Foto: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Zweitens: Was sind das 2007 nur für Namen gewesen? Kramnik trifft als amtierender Weltmeister schon in der 1. Runde auf den Mann, der ihm kurz darauf in Mexiko-City den Titel abnehmen wird: den Inder Viswanathan Anand. Die Partie endet remis. Was man damals nur ahnen kann: Auch Anands Nachfolger sitzt in Dortmund am Brett und feiert Premiere: der Norweger Magnus Carlsen. Mit dem Turniererfolg hat der damals 16-Jährige nichts zu tun. Er verliert gegen Kramnik, spielt die sechs anderen Partien remis und landet auf Platz 6.
Carlsen wird nur noch ein weiteres Mal nach Dortmund kommen, 2009. Die Ausgangslage ist da schon eine andere: Der Norweger steht mit 2770 Elo auf Platz 3 der Weltrangliste und ist in dem doppelrundigen Turnier auf Platz 1 gesetzt. Lange sieht es denn auch gut für ihn aus: Gleich in der 1. Runde gewinnt er gegen den Russen Jakowenko, führt bis zur siebten von zehn Runden die Tabelle allein an. Doch in Runde 8 endet der Traum vom Dortmund-Sieg: Carlsen verliert wieder gegen Kramnik. Am Ende liegt der Norweger einen Punkt hinter dem damals schon entthronten Weltmeister auf einem geteilten zweiten Rang.
Dortmund 2007: Magnus Carlsen bei seiner ersten Teilnahme in Dortmund (Foto: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Die Dortmund-Bilanz des Mannes, der seit 2013 Weltmeister ist und die Schachwelt dominiert, fällt also mit zwei Siegen, zwei Niederlagen und dreizehn Unentschieden nicht allzu beeindruckend aus. Dennoch würden sich die Organisatoren der Chess Trophy natürlich die Finger lecken, wenn sie Carlsen nach Dortmund locken könnten.
Wie hochkarätig die Schachtage über all die Jahre besetzt gewesen sind, zeigt eine andere Tatsache als die eher maue Bilanz des aktuellen Weltmeisters noch beeindruckender:
Nicht nur hat mit Ausnahme von Bobby Fischer jeder Weltmeister seit Boris Spasski in Dortmund gespielt (Karpow, Kasparow, Kramnik, Anand, Carlsen), sondern auch alle jeweiligen WM-Final-Gegner seit 1978: Kortschnoi, Short, Leko, Topalow, Gelfand, Karjakin und Caruana.
Rein sportlich hat das Turnier trotz aller Stars seit 2010 an Bedeutung verloren. Der Anspruch vieler Jahre, fast durchweg Weltklassespieler zu verpflichten, die um ein bis zwei deutsche Spieler als Lokalmatadoren und seit 2006 um den Sieger des Moskauer Aeroflot-Opens ergänzt werden, hat sich nicht mehr durchgehend halten lassen.
Dabei hat auch der Etat eine Rolle gespielt. Über das Internet und eine Vielzahl hochkarätiger Konkurrenzturniere ist Schach in den vergangenen Jahren deutlich populärer geworden. Die Top-Leute können sich deshalb ihre Engagements aussuchen, deutlich mehr Geld verlangen – Geld, das sich nicht erst seit Corona über Zuschauereinnahmen keinesfalls wieder hereinholen lässt.
Nach wie vor kommen Jahr für Jahr namhafte Spieler nach Dortmund, aber nicht alle haben sich als Zuschauermagneten erwiesen. Auch in der Dortmunder Stadtverwaltung spielt das Turnier nicht mehr die Rolle früherer Jahre wie ab 1994, als die Teilnehmer im Opernhaus oder im Stadttheater gegeneinander antraten. Man war nun im Orchester und damit eher in einem gemütlichen Kämmerlein als in der großen, feinen Stube der Stadt angekommen.
Ein Offenes Turnier für ambitionierte Vereinsspieler hat es immer gegeben, aber auch dieses hat an Bedeutung verloren, da es für nationale und internationale Meisterspieler zunehmend unattraktiv wurde und auch räumlich von der Hauptveranstaltung getrennt war. Immerhin gab es hin und wieder in einem zweiten Rundenturnier eine Gelegenheit für junge Spieler, die Normvorgaben für den Internationalen Meistertitel zu erfüllen. Eine Gelegenheit, die unter anderem vom aktuellen Pressesprecher der Schachtage, Patrick Zelbel, genutzt wurde.
5. Akt: Alles unter einem prestigeträchtigen Dach
Doch nun soll vieles anders, soll ein neues Konzept umgesetzt werden, das die Organisatoren schon 2020 angehen wollten. Organisatoren übrigens, die das Turnier seit langem kennen. Etwa der bereits mehrmals erwähnte Carsten Hensel, der frühere Kramnik- und Leko-Manager und Pressesprecher des Chess Meetings 1992. Sein Credo lautet:
„Wir kehren zurück an den prestigeträchtigsten Veranstaltungsort unserer Stadt. Hier können wir alle Wettbewerbe unter einem Dach organisieren und gleichzeitig viele neue Ideen und Innovationen realisieren.“
Hensel, der Gerd Kolbe seit 2020 als Veranstaltungsleiter abgelöst hat, sagt zu den Plänen: „Die alte Tradition des Turniers, ein Schachfestival aller Leistungsklassen unter einem einzigen Dach umzusetzen, liegt uns sehr am Herzen. Und wir haben Ideen entwickelt, wie wir Spitzenschach attraktiver veranstalten, auch um gegen den Remistod bei Schach-Partien der Weltklasse-Großmeister entgegen zu steuern.“
Die Dortmunder Westfalenhallen (Foto: Christian Lünig, Arbeitsblende)
Ändern wird sich nicht nur der Turniermodus. Geplant ist auch eine Digitalisierungsoffensive. TV-Übertragung, Streaming, eine eigene Online-Redaktion, das sind wichtige, zeitgemäße Stichworte. „Wir werden mit Bewegtbild arbeiten, um so den Schachfans in aller Welt Einblicke in das Dortmunder Turnier zu geben. Und dies auch live“, kündigt Guido Kohlen als Technischer Leiter des Ereignisses an. Schach ist ein bedeutendes Medium, unter anderem in der Kunst, der Wissenschaft, der Bildung und der fortschreitenden Digitalisierung. „Wir möchten uns in den kommenden Jahren all dieser Schwerpunkte zum Wohle der Sparkassen Chess Trophy annehmen“, sagt Carsten Hensel.
Und es soll ein ganz besonderes Schmankerl geben, das ausgetretene Pfade mehr verlässt als wohl jede andere Veränderung: ein Event zum Thema „No castling chess“ – eine Schach-Variante, die eigentlich völlig identisch mit dem klassischen Schach ist, aber eine wesentliche Variation bereithält: das Verbot, zu rochieren. Die Idee hierzu geht auf den 14. Schach-Weltmeister Wladimir Kramnik zurück.
„Es gibt dazu auch schon erste Testpartien der von der Google-Tochter DeepMind entwickelten künstlichen Intelligenz AlphaZero. Doch wir möchten die ersten mit einem großen Event von Top-Großmeistern auf höchstem Niveau sein“, sagt Patrick Zelbel dazu.
All das soll in den Westfalenhallen stattfinden, in die das Turnier erstmals seit dem Kandidatenturnier von 2002 zurückkehren wird. Eine neue Welle an Kreativität soll den Schachtagen im Laufe der kommenden Jahre auch international wieder mehr Aufmerksamkeit bescheren, natürlich ganz im Interesse der Stadt Dortmund und des Titelsponsors Sparkasse Dortmund.
Um sie erfolgreich umzusetzen, steht ein engagiertes Team bereit. Zum Beispiel der neue Turnierdirektor Andreas Jagodzinski, der Stefan Koth in dieser Rolle folgt. Koth selbst, Vorsitzender des veranstaltenden Vereins IPS, fungiert nun als Geschäftsführer der Veranstaltung. Als Technischer Leiter sitzt Guido Kohlen im Boot, der schon seit 2002 an Bord ist. Dazu kommen Christian Jochmann (unter anderem 2. Vorsitzender der Dortmunder Schachgemeinschaft), Sabine Oecking als künstlerische Leiterin und last but not least Wladimir Kramnik höchstselbst. Der Dortmund-Rekordsieger unterstützt als Botschafter und Repräsentant das Organisationsteam.
Kramnik und Hensel sind es denn auch, die personell den Bogen schlagen von der Zukunft 2021 in die erfolgreiche Vergangenheit: dem Chess Meeting von 1992. An die nächsten 29 Jahre denkt sicherlich noch niemand, aber wenn das neue Turnier-Konzept angenommen wird – und wenn Corona den Organisatoren nicht den zweiten dicken Strich durch alle Pläne macht –, muss einem zumindest um die nächsten Jahre Sommer-Spitzenschach in Dortmund nicht bange sein.